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Vordergründig und mit ironischem Biss ziehen die Keramiken von Nina Ahlers den Blick auf sich. Sie laden zum Hinschauen ein und wollen auch über das Betrachten wahrgenommen werden.

Das Feld der Gegenstände, welche die Künstlerin nachbildet, ist in sich so vielschichtig und heterogen, dass es auf Anhieb unmöglich erscheint, ein gemeinsames Motiv ausfindig zu machen. Die Themen variieren von Essbarem wie Nudeln, Spiegeleiern und Schokolade zu textilen Stoffen wie Kragen, Mützen und Bändern. Neben Alltagsgegenständen wie einer Trillerpfeife oder bereits benutzten Aquarelltöpfchen entstehen täuschend echte, völlig überdimensionierte Pillen, schwarze Schlangen und in sich ruhende, gold glänzende Kugeln.

In der konzeptionell stark ausgearbeiteten Materialität ihrer Arbeit spielt die Künstlerin zunächst mit dem klassischen Berührungsverbot des Kunstgegenstandes, welches das Objekt unter das Diktum des Auges stellt und dessen Rezeption vorgibt: es soll bloß angeschaut und nicht über den taktilen Sinn der Hände begriffen werden.
Die Pillen etwa, die in Form, Größe und Ausdruck geradezu einladen, in die Hand genommen und abgewogen zu werden, verweisen deutlich auf die Diskrepanz zwischen Sehen und Fühlen in der von der Hierarchie der Sinne strukturierten Wahrnehmungs-
weise. Was auf der Seite der Produktion über das untrennbare Miteinander von Auge und Hand, von Sehen, Tasten und Fühlen zum Objekt führt, wird auf der Seite der Betrachtung der Distanz des bloßen Anblicks übergeben. Die Künstlerin erhöht die fühlbare atmosphärische Spannung, welche dieser Kontrast in der Wahrnehmung auslöst dadurch, indem sie die Form und Farbigkeit ihrer Gegenstände entlang warenästhetischer Aspekte entwickelt. Sie potenziert den Notstand des Auges, dem in der schauenden Rezeption zugemutet wird, alle nicht unmittelbar erfahrbaren Sensationen zu abstrahieren und sie verwandelt so den konkreten Gegenstand an der Wand im Blick des Betrachters zu einem unerreichbaren und intelligiblen Objekt des Wunsches.
Just hier kommen die Pillen sozusagen sprichwörtlich zum Einsatz. Sie verführen durch ihre glatte, einfache Form, durch gesättigte Farbe und spiegelnde Oberfläche zu viel mehr als einem abstraktem Verständnis, indem sie jene Vorstellungen und sinnlichen Dimensionen des Gegenstandes „zünden“, die der bloßen Betrachtung selbst verborgen bleiben müssen. Man will die Objekte haben, berühren und anfassen. Diesbezüglich ließe sich in der Arbeit von Nina Ahlers von einer gesteigerten Taktilisierung der Wahrnehmung sprechen, die der Privilegierung des Augensinns die Schranken weist. Die Objekte fordern gegenüber der schauenden Betrachtung notwendig haptische Momente, die gerade in ihrem Ausbleiben unerhört wirksam werden.
Dies gelingt der Künstlerin vor allem dort, wo sie den Rationalismus des Auges mit genau dessen Mitteln spielerisch hintergeht. Die monochromen, platinierten, goldenen oder transparenten Lasuren ihrer Objekte bestätigen die Dominanz des Sehens, der sie einen klassisch anmutenden, einfachen, skulpturalen Gegenstand vorstellen. Diese Oberflächen suggerieren sozusagen wie ein Fenster den (Durch)Blick auf einen gewöhnlichen Alltagsgegenstand, der, den Gesezten der Optik entsprechend vergrößert, dem beobachtenden Blick zur Verfügung gestellt wird. Dem Auge erscheint so etwas, das durch den schöpferischen Prozess transformiert, von seiner opaken Materie „befreit“ und in einen klar sichtbaren, künstlerischen Gegenstand übersetzt wurde. Über das Sehen also und dessen traditionell (nicht nur in der Rezeption von Kunstwerken tief) verankerten Vorrangstellung im Reich der Sinne legitimiert sich vordergründig das Gegenstandskonzept der Künstlerin. Doch unter dem verheißungsvollen Glanz versetzt sie ihr Material in Schwingungen, das dieses nur zu scheinbar gewöhnlichen, bei genauerem Hinsehen jedoch zutiefst ambivalenten, die Sinne irritierenden Objekten gerinnen lässt.
Der Betrachter steht vor einem Ensemble disparater Teile und müht sich vergebens, ein Ganzes daraus abzuleiten.

Das Spiegelei, das in verschiedenen Formen und Größen immer wieder in der Arbeit der Künstlerin auftaucht, illustriert deutlich, was hier geschieht. Das Motiv, das als Symbol des Lebens, der Reinheit und der Fruchtbarkeit kosmische Dimensionen in sich vereinigt und thematisiert, erscheint zum einen als homogenes Einzelobjekt, das anmutet, als ob es gerade der Pfanne enthoben wurde, wie auch als zusammengesetztes Riesenobjekt an einer schwarzen Wand.
Zwei Blickweisen erzeugt die Künstlerin hier: Als amorphe, aber in sich homogene Einzelstücke erzählen die kleinen Spiegeleier von einem gerichteten und orientierten Blick auf die Dinge.
Von einem Blick, der Gegenständliches in seiner Zeichenhaftigkeit durchdringt und zu dessen symbolischer, in diesem Fall kosmischer Bedeutung aufschließt und diese lesen kann. Das Ei als Anfang, als Beginn, als Urzustand, von dem aus sich wiederum alles andere ableitet. Diese Spiegeleier folgen der Ordnung der Repräsentation und erfordern eine sich solcher „geordneten“ Repräsentation verpflichtende Optik. Etwas steht für etwas anderes. Das ist die Optik des Alltags, des Verstandes und der Funktion. Und um dieses Stellvertreterverhältnis zu gewährleisten, muss das Symbol, also das Spiegelei, der Betrachtung möglichst zugänglich und einfach sein. Es darf sich als Objekt nicht in den Vordergrund stellen und kann sich nur in den Grenzen der Lesbarkeit aufhalten. Nur hier entfaltet es seine semantische Größe. Anders jedoch verhält sich diesbezüglich das große Spiegelei, das aus unzähligen Elementen besteht, die auf ihrem schwarzen Hintergrund um einen gelben Dotter kreisen. Das Eine besteht plötzlich aus Vielem, die symbolisierende Ordnung wird unterbrochen, der Blick liest nicht mehr das Ganze, sondern verharrt an Einzelheiten, die aus der Vereinheitlichung heraustreten und dadurch materiell-gegenständlich werden. Das Dingliche der Arbeit, der Ton, seine Form und Farbigkeit wird da zunehmend präsent, wo sich das Symbolische zurückzieht. Aus dem Ei, obgleich immer noch Ei, ist etwas anders geworden, ein Plateau der kleinen Formen und Teile, die weniger das Symbol als dessen Materialität in Szene setzen. Der normative Blick wird abgelenkt, gerät vom Lesen ins Verharren, vom Sehen ins Starren und vom Verstehen ins Erleben. Er verweilt und haftet am Objekt. Er durchdringt den Gegenstand nicht mehr von der Oberfläche zur Tiefe, sondern kehrt mit unvermindertem Erstaunen zum Objekt zurück.

Was verbindet einen Regenwurm, ein paar ausgetretene Kinderschuhsohlen und eine Kugel?
Was führt Taucherbrille und Silberbaiser zusammen? Etwa der gleichmäßige und sich wiederholende Farbton, den sie tragen? Es ist gerade nicht die Ähnlichkeit, die zwischen den Dingen eine Verbindung schafft und es ist nicht die „sinnstiftende“ Beobachtung, welche die Oberfläche der Objekte schauend durchdringt, um in ihrer Tiefe einen Kern zu finden.
Die Dinge wollen nicht verstanden werden, sie wollen verführen. Sinnlich ist der Raum, in den sie getaucht sind, und der sinnliche Bezug ist das „Was“ der Wahrnehmung. Im Zustand dieser Sinnlichkeit befinden sich die Aquarelltöpfchen, die in leicht verschiedenen Größen nebeneinander an der Wand hängen. Einige Farben scheinen noch ungebraucht, manche benutzt, und im Schwarz sieht man bereits den Boden des Gefäßes. So ist jeder Topf ein Einzelstück, der seine eigene Geschichte mitbringt, seine eigene Temperatur, seine eigene Größe und Farbe. Zusammen scheinen sie von den möglichen Bildern zu erzählen, die durch sie hindurch oder aus ihnen hervor gegangen sind und verweisen auf das, was nicht da ist: das Bild. Und gerade das Fehlen, die noch leere Stelle, lässt „Sinnliches“ zirkulieren und verleitet zum Phantasieren. Alles ist denkbar, alles nah.

Ich stehe in der nebelverhüllten Aue eines in die Ferne führenden Flusses.Im dunstigen Morgenlicht reihen sich Bäume, deren Stämme in das feingliedrigen Geäst ihrer Kronen aufsteigen und sich darin verlieren, ich verweile im Garten, dessen Wege sich verzweigen. Doch die durch solche Gegenständlichkeit (der Arbeit) projizierte szenische Vorstellung ist gerade jener konventionellen Darstellung des malerischen Bildes verhaftet, welche die Objekte der Künstlerin abgestreift haben. Zurück zum Gegenstand heißt weg vom Bild. Die Farbbehälter sprechen eben nicht von einem stetigen, homogenen und unendlichen Raum in perspektivischer Hinsicht, der mit dem tatsächlichen physiologischen Raum des Betrachters nichts zu tun hat. Die Arbeiten der Künstlerin vergegenständlichen kein universales Verständnis, das den Dingen eine optische Konsistenz und Gleichartigkeit verleiht, durch die hindurch sie erklärbar sein wollten. Sie desavouieren ihren Dienst am repräsentativen Auftrag, der zwischen einem wirklichen und einem imaginären Objekt vermittelt. Die Keramiken der Künstlerin sind schlicht Einzelfälle. Und sie sind es selbst dann, wenn sie - wie im Falle der Aquarelltöpfchen, der Pillen und Kugeln - eine serielle Abfolge nachbilden.

Es ist, auch in der Reihe gleichartiger Teile, als ob jedes Objekt eine Art Zweitleben führt, unabhängig von den andern, eigenmächtig, unprätentiös und poetisch verschwiegen. Hier wohnt eine Welt der sinnlichen und nicht der logischen Bezüge. Ein markanter Unterschied, der für die Keramiken selbst nur von geringer, für ein mögliches Verständnis jedoch von wesentlicher Bedeutung ist. Das Wort „Sinn“ kommt von althochdeutsch „sinnan“ und meint „reisen“, „einer Fährte nachgehen“ und drückt darin ursprünglich ein Ortsbewegung aus, ein Streben und vor allem die Tendenz, dem Tun eine gewisse Richtung zu verleihen.
Damit verweist die Etymologie auf den performativen Charakter des Sinns, der zu einem Ereignis, und nicht zu festem Wissen führt. Sinnlichkeit erweist sich hier erfrischend indisponibel, als ein Ereignis im Milieu perzeptiver, ständig sich wandelnder Übergänge.

Hier erklärt sich, warum ein Spiegelei kein Spiegelei ist, sondern eine Vielzahl
gegenständlicher und singulärer Begebenheiten, die sich vor einer dunklen Fläche zu etwas zusammenfinden, von dem man sagen kann: das ist kein Spiegelei. Im Kontext häuslicher Nähe, dem assoziativen Nebeneinander von gebrannten Tonobjekten und Nahrung, positionieren sich die Keramiken der Künstlerin explizit an der Schwelle von Natur und Kultur und zeigen auf etwas, das weder das eine, noch das andere ist. Vehikel des Übergangs.

Und hierin verdeutlichen die Objekte der Künstlerin auch eine andere Wahrheit, die der Betrachter im Schauen mit den Augen berührt: Ausdruck und Verständnis entsteht, wenn wir uns mit den Widerständen der Welt auseinander setzen. Widerstand kann in diesem Sinn als ein Verhältnismaß einer Gesellschaft zu ihrer Kultur gelesen werden. Die farbigen formschönen Keramiken unterwandern mit ihren glatten, makellosen Oberflächen das Begehren des Betrachters, ent-leeren und ent-täuschen es. Sie verringern den Widerstand, bewerben souverän ihre ästhetische Verfügbarkeit und sind dabei vor allem das nicht was sie vorgeben: harmlose und fragile Plastiken.

Denn gerade über den Verzicht an Widerständen thematisieren die Arbeiten von Nina Ahlers den universellen Mangel an Sinnlichkeit und sie tun dies dort, wo sie uns mit ihren satten und vollen Farben längst in ihren Bann gezogen haben.


Bernd Ruzicska